Lediglich 23,6 Prozent Frauen wählen die Ausbildung als EFZ Landwirtin. Um den Beruf auch Mädchen schmackhaft zu machen, fand am Zukunftstag das Spezialprojekt «Ein Tag als Landwirtin» statt. Die Fünftklässlerin Mila besuchte das landwirtschaftliche Zentrum Liebegg, ihr Schulkamerad Nicolas begleitete sie als fenaco Reporter.
Welche Arbeiten gibt es in der Landwirtschaft? Gibt es da viele Tiere? Wie entsteht eine Reportage? Wie führt man ein Interview? Es ist noch nicht einmal 8.00 Uhr und stockdunkel an diesem regnerischen Tag Anfang November. Mila und Nicolas sitzen voller Vorfreude und mit unzähligen Fragen im Zug Richtung Gränichen (AG). Die beiden Fünftklässler aus Küsnacht (ZH) besuchen das Landwirtschaftliche Zentrum Liebegg anlässlich des Zukunftstags. Mila darf dort das Spezialprogramm «ein Tag als Landwirtin» besuchen (siehe Infobox). Nicolas begleitet sie und lernt auf diese Weise die Arbeit der fenaco Reporterin kennen.
Tolles Praxisschulzimmer
An der Liebegg nimmt Hans Jörg Haller, Betriebsleiter Ausbildungs- und Versuchsbetrieb, die beiden Kinder sowie neun weitere Primarschülerinnen, die in der Umgebung die fünfte und sechse Klasse besuchen, in Empfang. Er meint mit einem Schmunzeln: «Theorie machen wir später, wir gehen nun sogleich in die Obstanlage.» Er ist froh, wenn ihm die Kinder helfen, die zurückgebliebenen Tafeläpfel Mairac und Pinova fürs Mosten zusammenzulesen. Zudem sollten die Hagelnetze vor dem Winter geöffnet und zusammengelegt werden. Zur Freude aller fährt er die Hebebühne aus der Scheune und chauffiert seine Helferinnen und Helfer zu den Apfelbäumen. Die Kinder lernen, nur die Äpfel einzusammeln, die zum Mosten noch zu gebrauchen und entsprechend nicht schon zu faul sind.
«Ich möchte den Schülerinnen zeigen, wie vielseitig die Landwirtschaft ist. Es wäre toll, ich könnte bei den Kindern die Freude an unserer Arbeit wecken», erklärt Hans Jörg Haller. Er selbst habe seinen Bubentraum erfüllt und die Ausbildung als Landwirt gemacht, wie er Nicolas verrät, der ein kurzes Interview mit ihm führen darf. «Und welche Arbeiten machen Sie auf der Liebegg?», will Nicolas wissen. Er hat sich während der Zugfahrt notiert, welche Fragen er dem Landwirten stellen möchte. «Als Betriebsleiter im landwirtschaftlichen Zentrum Liebegg habe ich eine spannende Doppelrolle: Nebst der Führung des Hofs vermittle ich den Lernenden des Ausbildungszentrums gerne die Praxis hautnah», antwortet Hans Jörg Haller.
Der praxisorientierte Unterricht gestaltet sich wegen der Ausrichtung des Betriebs äusserst vielseitig. Denn zu ihm zählen 25 Milchkühe der Rasse Red Holstein und Schwarze Holstein, eine Herde aus 30 Mutterkühen mit ihren Kälbern für die Natura-Beef-Produktion, 26 Muttersauen und ihrem Nachwuchs für die IP-Suisse Produktion und 44 Hektaren landwirtschaftliche Nutzfläche, davon zwölf Hektaren Ackerbau. «Unser Betrieb ist ein tolles Praxisschulzimmer. In allen Bereichen können die Lernenden Hand anlegen und auch lernen, wie man die vielen Maschinen und Zugfahrzeuge fährt», sagt Hans Jörg Haller.
Pasteurisieren? Direktvermarktung?
Schneller als gedacht sind alle Äpfel aufgelesen und im Harass auf dem Traktor. Während die Sechstklässlerinnen Jana und Melina PET-Flaschen mit Most etikettieren, erfahren die Schüler, dass der Apfelsaft im Durchlauferhitzer auf 78 Grad Celsius erhitzt wird, um so für rund ein Jahr haltbar zu bleiben. Nun ist auch die Frage geklärt, was das Wort pasteurisieren bedeutet. «Die Liebegg produziert jährlich 30 000 bis 40 000 Liter Most. 50 Prozent für die Liebegg selbst, die andere Hälfte für Dritte», erklärt der Betriebsleiter.
Er fügt an: «Den eigenen Most, den die Liebegg nicht für die eigene Kantine braucht, verkauft der Betrieb zusammen mit alle anderen Produkten über die Direktvermarktung.» «Was heisst Direktvermarktung?», möchte die Fünftkässlerin Malin wissen. Hans Jörg Haller erklärt, dass der Betrieb Liebegg alle Produkte zum grössten Teil über seinen Hofladen den Kundinnen und Kunden verkauft. Also direkt und nicht über Grosshändler. Ein kleiner Anteil an Süssmost, Apfelringli, Tafelobst und Rapsöl verkauft die Liebegg über die LANDI Unteres Seetal, bei der das Ausbildungszentrum sowie der Landwirt Hans Jörg Haller Mitglieder sind. Im Gegenzug bezieht das Ausbildungszentrum dort Saatgut oder Tierfutter.
Vier Kuhmägen, ein Ei
Bei Pommes und Chicken Nuggets können die Kinder den beiden Zukunftstagorganisatorinnen und Tierhaltungsausbildnerinnen Lea Schibli und Bettina Mäder viele weitere Fragen stellen und erfahren, dass ein Arbeitstag einer Landwirtin um 6 Uhr in der Früh beginnt. Nach dem lustigen Wandtafelfussball in einem der Unterrichtszimmer wissen dann auch alle Schülerinnen und Schüler, dass eine Kuh vier Mägen hat und ein Huhn lediglich ein Ei am Tag legt.
Dann endlich findet der von allen Kindern lang ersehnte Besuch bei den Tieren statt. «Auf den Besuch im Stall freue ich mich schon die ganze Zeit. Da ich Tiere und die Natur so mag, möchte ich einmal auf einem Bauernhof arbeiten», erzählt die Sechstklässlerin Fabienne. «Wow, diese vielen Namenstafeln der Kälber und Kühe», ruft die Schülerin Amélie tief beeindruckt und notiert sich die lustigsten Namen für ihren Schulvortrag. Nicolas erfährt, weshalb alle Tiere einen Transponder am Halsband tragen. So weiss die Futtermaschine sofort, welches Tier welches Kraftfutter benötigt. «Das ist ja voll automatisiert!», staunt Nicolas.
Im Schweinestall schliessen alle die ungestümen, kleinen Ferkel sofort ins Herz. Dass sie im Alter von rund neun Wochen und mit 25 Kilogramm in die Mast gehen, nehmen die Kindern ungern zur Kenntnis. «Ich möchte verständlich erklären, was ein Nutztier ist. Wichtig ist es zudem zu betonen, dass es alle Tiere in der Zeit auf dem Hof gut haben sollen», sagt Hans Jörg Haller.
Die Besuchszeit auf Liebegg neigt sich dem Ende zu. «Mila, was war für dich nun das Beste am heutigen Tag?», fragt Nicolas. «Ich fand es am schönsten, alle Tiere zu sehen und zu streicheln» strahlt Mila. «Und du Nicolas, was hat dir heute gefallen?», erkundigt sich Mila bei ihrem Schulkollegen. «Einmal Reporter zu spielen fand ich lustig. Dass wir für Videos alles zweimal aufnehmen müssen, also im Querformat für die Website und im Hochformat für Instagram, finde ich aufwändig. Und super gefallen haben mir natürlich alle Maschinen wie die Hebebühne und der schöne Traktor.»
Nationaler Zukunftstag
Jeweils am zweiten Donnerstag im November findet der Zukunftstag statt. An diesem Tag können Schülerinnen und Schüler der 5. bis 7. Klasse eine Bezugsperson zur Arbeit begleiten oder an einem der vielen Spezialprogramme teilnehmen. In den Spezialprogrammen verbringen die Mädchen und Knaben den Tag in Gruppen zusammen mit einer Fachperson. Die Zukunftstage finden jeweils unter dem Motto «Seitenwechsel für Mädchen und Jungs» statt. Dies mit dem Ziel, dass Mädchen und Jungen praxisnahe Einblicke in Arbeitsbereiche erhalten, in denen ihr Geschlecht untervertreten ist. Die Geschäftsstelle «Nationaler Zukunftstag» analysiert dazu jedes Jahr die Statistiken pro Berufsbild vom Bund: Beträgt der Frauenanteil in einem Beruf weniger als 30 Prozent, so wird dieser Berufszweig als «Mädchen-Zukunftstag» definiert. Die Statistiken für die EFZ Landwirtin und Landwirt (mit Eidgenössischem Fachausweis) aus dem Jahr 2022 zeigen 23,6 Prozent Frauen. Aus diesem Grund wurde für 2023 das Spezialprogramm «Ein Tag als Landwirtin» festgelegt.
Landwirtschaftliches Zentrum Liebegg
Das Landwirtschaftliche Zentrum Liebegg in Gränichen ist das Kompetenzzentrum für Landwirtschaft, Hauswirtschaft und Ernährung im Kanton Aargau. Zu den Bildungsgängen gehören Landwirt*in mit Eidgenössischem Fähigkeitsausweis (EFZ). Diese dreijährige Ausbildung absolvieren die Lernenden direkt nach der Schulzeit. Während dieser Zeit leben und arbeiten die Lernenden auf einem Betrieb oder mehreren Betrieben ihrer Wahl. Auch die verkürzte, zweijährige Lehre als Agrarpraktiker*in (Eidgenössisches Berufsattest EBA) bietet Liebegg an. Um Bäuerin oder Bäuerlicher Haushaltleiter zu werden, können Interessierte den Fachausweis machen. Dabei handelt es sich nicht um eine Grundausbildung wie beim EFZ, sondern um eine Weiterbildung. Sie setzt eine abgeschlossene Ausbildung voraus. Die Liebegg bietet zudem Kurse, Veranstaltungen und Beratungen an.