Noch immer landen viele Rohstoffe und abgepackte Lebensmittel im Abfall. Urs Vollmer, langjähriger fenaco-Projektleiter für CO2, Nachhaltigkeitsberichte und Foodwaste sowie Mitglied der Geschäftsleitung frigemo, gibt einen Einblick über den aktuellen Stand im Kampf gegen Foodwaste.
Urs Vollmer, wie viele Lebensmittel werden konkret jedes Jahr entsorgt?
In der ganzen Schweiz wandern 2,8 Millionen Tonnen Lebensmittel pro Jahr im Abfall. Am meisten in den Haushalten (38 Prozent), dann in der Verarbeitung (27 Prozent) und an dritter Stelle in der Gastronomie (14 Prozent). Der Prozentsatz in der Landwirtschaft (13 Prozent) und im Detailhandel (8 Prozent) muss man differenziert betrachten, da die beiden Bereiche aufgrund der optischen Qualitätsnormen eng zusammenspielen: Krumme Rüebli sind im Verkauf und bei den Konsumentinnen und Konsumenten unerwünscht, also werden sie aussortiert. Sie werden in der Lebensmittelindustrie verwendet oder landen im Tierfutter. Auch bei der Verarbeitung in der Lebensmittelindustrie werden Rohstoffe entfernt, die nicht die passende Form oder nicht das richtige Gewicht haben. Zudem gibt es Verluste beim Schälen und Rüsten. Verdorbene Lebensmittel schliesslich landen in der Biogasanlage und werden dort zu Strom veredelt.
Wie erklärt sich der hohe Prozentsatz an Foodwaste in den Haushalten?
Dort gelten Produkte nach Ablaufdatum («mindestens haltbar bis...») fälschlicherweise als nicht mehr konsumierbar. Wir haben daher zusammen mit der Arbeitsgruppe «foodsave2025» Ende 2021 das Informationsblatt «Mindesthaltbarkeitsdatum plus – Genuss ohne Risiko» herausgegeben (siehe Infobox). Dieses legt einen Zeitrahmen über das «normale» Mindesthaltbarkeitsdatum fest, innerhalb dessen ein Produkt bei korrekter Lagerung noch sicher und geniessbar ist. Je nach Kategorie sind das zusätzliche sechs bis 360 Tage. Produkte mit Verbrauchsdatum, die zum Einfrieren geeignet sind, können als Tiefkühlprodukt ebenfalls weitere 90 Tage lang verwendet werden. Auf diese Weise haben wir bei frigemo 150 Tonnen Lebensmittel verlängern können. Ziel und Wunsch ist es, dass dieses Informationsblatt an jedem der geschätzten vier Millionen Kühlschränke in der Schweiz hängen und die Ratschläge befolgt werden. So könnten wir etwa 35 Prozent des Foodwastes minimieren.
Welche weiteren Massnahmen zeigen sich auch schon erfolgreich?
Seit 2013 arbeiten wir mit «Schweizer Tafel» und «Tischlein deck dich» zusammen. Rohstoffe, die qualitativ einwandfrei sind, aber den optischen Qualitätsnormen für den Verkauf im Handel nicht entsprechen, oder nicht verkaufte Produkte können wir so direkt Armutsbetroffenen verteilen. Wir beteiligen uns auch finanziell an den Transport- und Logistikkosten dieser Lebensmittelhilfen. Immer mal wieder arbeiten wir auch mit dem Bieler Familienunternehmen Narimpex zusammen. Es wertet unter der Marke nectaflor «Stop Food Waste – hilf auch Du!» Rohstoffe, die aus der Norm fallen, zu Tees, Sirup oder Saucen auf. Und bei frigemo geben wir seit zwei Jahren erfolgreich gratis Produkte an Mitarbeitende ab. Diese stammen von Versuchsrezepturen und Testprodukte aus der Produktentwicklung oder aus der Logistik, wo leicht beschädigtes Verpackungsmaterial eine Weitergabe an den Verkauf verunmöglichte. Ferner können es auch ausgelistete, überzählige Produkte sein, die unsere Kunden aus ihrem Sortiment gestrichen haben.
Durch die laufende Sensibilisierung zum Thema Foodwaste hat auch der Detailhandel mehr Handlungsspielraum erhalten, Foodwaste zu vermeiden, sofern dieser überhaupt anfällt. Seit Anfang 2021 arbeitet das Unternehmen mit dem Startup «Too Good to Go» zusammen. Über diesen Kanal können Volg Kundinnen und Kunden kurz vor Ladenschluss die nicht rechtzeitig verkauften Lebensmittel zu einem stark reduzierten Preis als Überraschungspäckli abholen.
»
Gibt es zusätzliche Projekte, die gegen die Verschwendung von Lebensmitteln ankämpfen?
In der Arbeitsgruppe «foodsave2025» beschäftigen wir uns zusammen mit dem Bundesamt für Umwelt mit der Beziehung von Lebensmitteln und Tierfutter und somit mit folgenden Fragen: Gibt es Lebensmittel, die besser nicht als Tierfutter verwendet werden und für menschliche Ernährung aufgewertet werden könnten wie beispielsweise Biertreber? Oder, ist es nicht zielführender, die beim Käsen anfallende grosse Menge an Molke den Schweinen zu verfüttern und dafür weniger Soja anbauen zu müssen? Dann gibt es innerhalb der Division Lebensmittel neu die Abteilung Innovationen. Hier wird zusammen mit Start-ups untersucht, wie aus Nebenprodukten Lebensmittel entstehen könnten. Also beispielsweise aus Biertreber Chips oder aus Nussschalen Proteinextrakte.
Ein grosser, übergeordneter Schritt ist sicherlich, dass die fenaco im Mai 2022 die Zielvereinbarungen des Bundes zur Bekämpfung von Foodwaste mitunterzeichnet hat. Ziel ist es, die vermeidbaren Lebensmittelverluste bis 2030 zu halbieren. Als erstes haben alle Unterzeichnenden ihre Daten erhoben. Auch wir haben in diesem Jahr über die verschiedenen Geschäftseinheiten hinweg und über die ganze Wertschöpfungskette – von der Ernte, über den Transport, zur Verarbeitung bis zur Verpackung und zum Endprodukt – in Zahlen festgehalten, wo überall Lebensmittelverlust vorkommt. Bis im November erhält der Bund von allen Mitgliedern diese Daten. Nach der Datenauswertung wird sich zeigen, wo weitere Massnahmen notwendig sind.
MHD+ von «foodsave2025»
Die Arbeitsgruppe «foodsave2025» besteht aus Vertreterinnen und Vertreten der Wissenschaft, von Spendenorganisationen und der Lebensmittelbranche. Dazu gehört mit Urs Vollmer auch die fenaco. Gemeinsam tüftelt die Gruppe an pragmatischen Lösungen gegen Foodwaste. Ende 2021 lancierte die Arbeitsgruppe eine zeitgemässe und sinnvolle Datumsverlängerung von Lebensmitteln in der Schweiz, die vom Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen akzeptiert worden ist und offiziell unterstützt wird. Konkret hat «foodsave2025» die offiziellen Leitfäden zur Datierung und Spende von Lebensmitteln überarbeitet sowie den Flyer «Mindesthaltbarkeitsdatum plus – «Genuss ohne Risiko» erarbeitet und in acht Sprachen herausgegeben.